Spät dran – Jeder Moment zählt (Kurzgeschichte)

Spät dran
Jeder Moment zählt

Siebte Geschichte aus dem Buch „Süße Not“

Von Magenta König

Kurzgeschichte, erschienen am 24.11.2022

VG Wort
Mann schat im Auto sitzend auf sein Smartphone

Bei seinem Blick auf die Uhr erschrak Clemens. Achtzehn Uhr dreißig – schon wieder die Zeit vergessen. Dabei hatte er seiner Lebensgefährtin fest versprochen, heute zur Feier ihres Jahrestages pünktlich zu sein. Er überflog die Datei, an der er gerade gearbeitet hatte, speicherte sie und klappte dann den Laptop zu. Die Auswertung musste warten – ausnahmsweise. Dabei war es gewöhnlich Vanessa, die warten musste, da Clemens der Job über alles ging.

Zügig packte er seine Sachen zusammen, danach verließ er schnellen Schrittes das geräumige Büro mit dem weiten Blick über die Hamburger Innenstadt.

 

Auf dem Weg zum Lift zögerte er. Die Toiletten lagen in der anderen Richtung des Flurs und nun, nachdem er aufgestanden war, spürte er seine Blase recht deutlich. Doch andererseits: Wenn er sich beeilte, konnte er es fast noch pünktlich schaffen und der Abend wäre nicht vollkommen ruiniert. Er wusste, dass bei seiner Freundin jeder Moment, den sie länger auf ihn warten musste, zählt – die kleinste Sekunde, in der sie Gelegenheit hatte, sich zu ärgern, konnte ausschlaggebend sein.

Kurz horchte er in sich hinein, beschloss dann aber fatalerweise, sich die fünf Minuten zu sparen und erst daheim das Bad aufzusuchen.

 

Mit dem Aufzug fuhr er hinunter. Er rechnete kaum damit, dass die Rückfahrt viel Zeit in Anspruch nehmen würde, da es gegen Abend anders auf den Straßen aussah als zu den üblichen Stoßzeiten.

Er begann, sich auf seine Partnerin und die gemeinsamen Stunden zu freuen. Vermutlich hatte sie ein exzellentes Abendessen vorbereitet und dazu einen wunderbaren Wein geöffnet; hinsichtlich ihres Geschmacks konnte er sich auf Vanessa verlassen. Gleich im Wagen wollte er ihr eine Nachricht schreiben, dass er sich auf dem Weg befand, doch wie so oft machte ihm die Arbeit einen Strich durch die Rechnung. Ausgerechnet der Leiterin des Vertriebs, der überambitionierten Dame, die auf die Zahlen wartete, die Clemens beherzt auf den nächsten Tag verschoben hatte, lief er in der sonst menschenleeren Eingangshalle des Gebäudes in die Arme.

»Herr Schumann«, sprach sie ihn an, »gehen Sie etwa schon?« Fast machte sich ein schlechtes Gewissen in ihm breit, dann jedoch rief er sich zur Ordnung. Niemand außer ihr saß wirklich ständig bis in die Nacht im Büro.

»Gerade war ich auf dem Weg zu Ihnen«, informierte sie ihn. Das fehlte ihm noch. Sie war unglücklicherweise nicht nur sehr eifrig, sondern auch äußerst redselig. Höflich versuchte er, sie abzuwimmeln.

»Tut mir leid, heute bin ich in Eile. Gern Montag früh.« Dabei ging er weiter.

 

»Nun warten Sie doch«, bat die Kollegin, während sie schnellen Schrittes neben ihm herlief. Die hohen Absätze klapperten auf dem Marmorboden.

»Wenigstens ein paar Infos benötige ich, sonst komme ich nicht weiter.« Innerlich stöhnte Clemens auf. Er wusste, dass er aus dieser Lage nicht herauskommen könnte, ohne unhöflich zu werden. Er entschied sich für den freundlichen Weg.

»Dann aber zügig, Frau Rathke, ich bin wirklich sehr in Zeitnot.« Und in andere, weitaus schlimmere Nöte würde er bald kommen, wie Clemens bemerkte. In seinem Unterleib machte sich die Flasche Wasser, die er geleert hatte, inzwischen deutlich bemerkbar. Er war noch immer davon überzeugt, den Heimweg überstehen zu können, doch je länger die penetrante Vertriebsleiterin redete, desto schwerer fiel Clemens die Konzentration.

Seine Antworten wurden einsilbiger. Demonstrativ schaute er auf die Armbanduhr. Die Zeiger waren weitere zwanzig Minuten vorgerückt. Pünktlich schaffte er es auf keinen Fall mehr; es galt, Schadensbegrenzung zu betreiben.

»Bitte entschuldigen Sie mich, ich muss wirklich nach Hause …« Die Missbilligung im Gesicht seines Gegenübers ignorierte er geflissentlich. Um der Verabschiedung Nachdruck zu verleihen und vor allem, um den unangenehmen Drang endlich loszuwerden, wandte er sich Richtung WC.

»Bis dann«, verabschiedete er sich energisch, während er schon den Weg zu den Toiletten im Nebenflur einschlug.

 

Dort angekommen musste er jedoch feststellen, dass ein gelbes Schild, welches vor Rutschgefahr auf dem nassen Fußboden warnte, die offene Tür versperrte. Im Inneren des Sanitärbereiches sah er zwei Reinigungskräfte mit Lappen und Schrubbern hantieren.

Den beiden Putzfeen wollte er nicht in die Quere kommen, die daneben liegende Damentoilette erst recht nicht benutzen. Eine Sekunde lang wog er ab, ob er kurz in den ersten Stock laufen und das dort befindliche Herrenklo aufsuchen sollte, befand dann allerdings, dass es die überschaubare Strecke nach Haus wohl noch aushaltbar sein dürfte. Weitere Verzögerungen waren nicht akzeptabel. Vor seinem inneren Auge sah er bereits den enttäuschten Gesichtsausdruck seiner Geliebten. Obwohl exakt in diesem Augenblick eine heftige Welle des Müssens durch seinen Unterkörper zog, beschloss Clemens, das Risiko einzugehen.

 

Rasch drehte er sich um und wandte sich dem Ausgang zu. Er wollte nur noch zu seinem Wagen, der im Parkhaus unmittelbar gegenüber des Unternehmens auf ihn wartete, und dann schnellstmöglich heim. Jedoch hatte er nicht mit der Aufdringlichkeit der Managerin gerechnet.

Zu seinem Entsetzen erwartete sie ihn und bat darum, in seinem Auto mitgenommen zu werden.

»Sie fahren doch ohnehin in Richtung Norden. Auf diese Weise kommen Sie pünktlich nach Hause und wir besprechen alles in Ruhe zu Ende.« Sie lächelte. Nichts wollte Clemens weniger, als die Rathke neben sich sitzen haben, vor allem in seinem derzeitigen Zustand. Er erwog, einfach abzulehnen, doch dafür hätte er einen triftigen Grund nennen müssen. Hin- und hergerissen überlegte er, nun doch das WC im ersten Obergeschoss zu besuchen; die unbeirrte Abteilungsleiterin starrte ihn auffordernd an.

»Ich dachte, Sie haben es so eilig?« Sie ging langsam einige Schritte auf die Drehtür zu.

»Ja, habe ich«, stimmte er ergeben zu, während er ihr folgte.

Innerlich betete er, keinen allzu großen Umweg in Kauf nehmen zu müssen. Überhaupt wunderte es ihn, dass sie wusste, wo er lebte.

 

Nervös öffnete er per Fernbedienung die Türen der dunklen Limousine. Inzwischen musste er sich ziemlich konzentrieren, um dem stärker werdenden Druck Einhalt zu gebieten. Er hatte jedoch noch nicht einmal aus der Parklücke zurückgesetzt, als die ungebetene Beifahrerin schon wieder redete. Er hingegen schwieg.

Rasant steuerte er den Audi aus der Garage, gab Gas, sobald er auf der Straße war. Auf dem Nebensitz war es ruhig geworden. Kommentare zu seinem Fahrstil gab es keine; zumindest dies maßte sie sich nicht an.

Die eingetretene Stille war Clemens sehr recht. Seine Gedanken kreisten unaufhörlich um das fiese, nervtötende Gefühl, welches noch einmal deutlich zugenommen hatte. Er konnte sich nicht erinnern, wann er jemals so dringend hatte pinkeln müssen.

 

»Wohin eigentlich?«, fragte er einsilbig. Seine Anspannung schien sich auf die Frau an seiner Seite zu übertragen, die zu Clemens’ Erleichterung eine S-Bahn-Haltestelle nannte, die ohnehin mehr oder weniger auf seinem Heimweg lag.

Der Pinkeldrang nahm zu. Mittlerweile war es ihm gleichgültig, ob sie ihn als unhöflich empfand. Möglicherweise begriff sie endlich, wie ernst es ihm damit gewesen war, als er sagte, er habe es äußerst eilig – auch wenn dies inzwischen andere Gründe als die heimische Missstimmung hatte.

Sein Kiefer verkrampfte sich. Nachdem ihm selbst aufgefallen war, wie stark er die Zähne aufeinanderpresste, bemühte er sich, wieder zu entspannen. In seiner Blase stach es. Sein gesamter Körper verlangte nach Erleichterung, nichts anderes hatte in seinem Kopf mehr Platz.

 

In Gedanken versunken, bemerkte er fast zu spät das Hinweisschild, das eine Umleitung ankündigte. Er blinkte, riss das Lenkrad herum und stand eine Minute darauf wieder einmal vor einer roten Ampel. Entgegen seiner üblichen Art fluchte er unbeherrscht los. Clemens spürte die Hitze, die in ihm aufstieg; er begann zu schwitzen. Gern wäre er seine Jacke losgeworden, doch während der Fahrt konnte er sie schlecht ausziehen.

»Scheiß Baustelle«, machte er seinem Unmut Luft. Im Bemühen, die Stimmung etwas erträglicher zu gestalten, stimmte die Vertriebsleiterin ihm zu. Und wohl um ihn zu trösten, fügte sie mit einem kleinen Lächeln an:

»Seien Sie froh, dass Sie wenigstens noch einmal auf der Toilette waren.« Clemens’ Kopf fuhr herum. Wütend blitzte er sie an. All dies war nur ihre Schuld, doch das konnte er ihr schlecht vorwerfen – abgesehen davon, dass er unter keinen Umständen zugegeben hätte, welche Qualen er gerade ausstand. Am liebsten hätte er sich in den Schritt gegriffen und seinen Schw**z geknetet, der halb steif in seiner Shorts lag. Das wäre indes dermaßen unpassend, dass ihn die Vorstellung fast zum Lachen brachte; ein Lachen der Verzweiflung.

 

An der nächsten Ecke hinderten ihn weitere rot-weiße Absperrungen daran, abzubiegen und wieder auf den korrekten Kurs zu kommen. Hektisch trommelte er mit den Fingern auf das Lenkrad. Er beschleunigte, bremste ab, beschleunigte.

Die ruckartigen Bewegungen machten seine Not nicht besser – er hatte sich kaum noch unter Kontrolle. Sobald er halten musste, presste er so unauffällig wie möglich die Oberschenkel aneinander. Der Stoff seiner dunklen Hose raschelte.

»Die reißen hier alles auf«, gestattete sich seine Beifahrerin einen Hinweis auf das Offensichtliche. Clemens antwortete nicht. Er schwitzte stärker. Trotz fortgeschrittener Uhrzeit war der Verkehr dicht.

»Wenn wir hier weiterfahren, kommen wir außerdem noch in den Stau«, informierte ihn die Managerin weiter, »heute spielt der HSV.« Damit war alles gesagt. Clemens hätte schreien mögen. Er wusste genau, was auf den Straßen los war, wenn die Fans Richtung Stadion strömten.

 

Erneut zwang ihn eine rote Ampel, anzuhalten. Als sie auf Grün sprang, blieb der Wagen vor ihm stehen. Clemens hupte. Nur mühsam kam der Autofahrer vor ihm in die Gänge.

Es wurde drängender und drängender. Bei jedem neuen Schub stieg sein Verlangen, sich zusammenzukrümmen. Dazu kam, dass er zwar grob wusste, wo er sich befand und wie in etwa sein Heimweg aussah, doch wie er zu besagter Haltestelle fahren musste, war ihm derweil nicht mehr klar.

»Haben Sie einen Plan B?«, keuchte er verzweifelt. Seine Augen begannen, die Umgebung nach einer Möglichkeit abzusuchen, sich zu erleichtern, fanden allerdings nichts Passendes. Nicht ein einziges Schnellrestaurant, das sonst an jeder Ecke zu entdecken war, konnte er ausmachen. Und einfach irgendwo hinzupinkeln kam nicht in Frage. Bald würde ihm jedoch kaum etwas anderes übrig bleiben, wie er bestürzt realisierte.

Eine neuerliche Welle des Harndrangs überkam ihn. Seine Hand zuckte reflexartig zu seinem Schoß, erst in letzter Sekunde beherrschte er sich. Das Stechen in der Blase wurde schlimmer, der Schließmuskel protestierte massiv.

In diesem Augenblick klingelte sein Mobiltelefon. Nicht auch das noch, dachte er resigniert. Obwohl er wusste, dass es seine Freundin war, die völlig zu Recht wissen wollte, wo er blieb, drückte er den Anruf weg. Sich mit ihrer schlechten Laune herumzuärgern, sah er sich außer Stande. Außerdem ging es seine Kollegin nichts an.

 

Der Blick seiner Beifahrerin wirkte mitleidig, wie Clemens aus dem Augenwinkel bemerkte. Natürlich hatte sie mitbekommen, dass er nicht an das Telefon ging, und schien sich ihre eigenen Gedanken zu machen. Eine Lösung hatte sie zwar nicht parat, doch unerwartet schlug sie vor:

»Lassen Sie mich da vorn raus. Das letzte Stück kann ich zu Fuß gehen und sie verschwenden keine weitere Zeit mit einem Umweg. Offensichtlich wartet jemand dringend auf Sie.«

Clemens nahm an, dass ihre plötzliche Rücksicht auch mit seiner Laune zu tun hatte – vermutlich war sie ebenso froh, aus seinem Wagen zu kommen, wie er, wenn er keine unliebsame Zeugin mehr für seine Pein hatte. Also hielt er kurzerhand in zweiter Reihe an: Mit eingeschaltetem Warnblinklicht blockierte er dreist die Fahrspur.

»Danke fürs Mitnehmen. Wir sehen uns Montag«, verabschiedete sich Frau Rathke, bevor die schwere Tür ins Schloss fiel.

 

Wie er ihr die seltsame Aktion erklären sollte, darüber müsste Clemens sich später Gedanken machen, derzeit sah er sich dazu nicht in der Lage. Im Augenblick gab er nur Gas, rammte die Gänge ins Getriebe, presste dann hoffnungslos seine Hand in den Schritt. Er hatte keine Ahnung, wann es unkontrolliert beginnen würde, aus ihm hinauszulaufen.

Seine Faust umklammerte den Schw**z, als er einhändig durch den Verkehr steuerte.

Sein Hemd klebte ihm am Rücken. Das Mobiltelefon klingelte erneut. Wieder verstummte es. Dieses Mal zeigte ein Signalton an, dass jemand auf die Mobilbox gesprochen hatte. Clemens hatte keine Kraft mehr, sich darum zu kümmern. Vor seinem inneren Auge entstand die unerfreuliche Vision, wie er sich hilflos in seinen teuren Anzug pinkelte. Das galt es zu verhindern. Ein paar Büsche würden ihm genügen – Hauptsache er stand nicht mitten auf der Straße, während er sich erleichterte. Rastlos huschten seine Blicke umher.

 

Seine Beine wippten. Der Pegel in seiner mittlerweile total verkrampften Blase stieg unaufhaltsam. Als er spürte, wie der Urin sich den Weg in die Harnröhre bahnte, entschied er, dass es nicht länger ging.

Er schaltete den Warnblinker zum zweiten Mal ein, trat nach einem Blick in den Rückspiegel scharf auf die Bremse. Zu seinem Glück war er nicht mehr auf der Hauptstraße und der Verkehr inzwischen deutlich weniger geworden. Mit einem Ratschen befestigte er die Handbremse, stürzte dann bei laufendem Motor aus dem großen Audi.

Seine Finger bemühten sich weiterhin, die goldene Flüssigkeit aufzuhalten, während die andere Hand hektisch am Reißverschluss nestelte. In der Sekunde, als er losließ, begann er zu pinkeln. Gerade noch gelang es ihm, seinen berstenden Schw**z aus der Hose zu ziehen.

 

Nasse Tropfen zierten den Asphalt, als er zu einem Zaun stolperte, an dem ein großes Werbeplakat angebracht war. Noch nie hatte Clemens eine derartige Erleichterung verspürt, wie in diesem Moment. Unaufhaltsam prasselte der Strahl gegen das Holz und auf das Unkraut, das zu seinen Füßen wuchs. Er schloss die Augen. Welch göttliche Erlösung dies doch war.

Bewusst wandte er seinen Blick weder nach links noch nach rechts. Er wollte gar nicht wissen, wer ihn in dieser prekären Situation beobachtete. Hinter ihm bremsten Fahrzeuge, überholten dann seinen Wagen.

Nachdem er seinen Penis wieder verstaut hatte, kehrte er grinsend, doch mit gesenktem Kopf zum wartenden Auto zurück. Peinlich war es ihm schon, allerdings überwog das Glücksgefühl in dieser Sekunde einfach alles. Bevor er losfuhr, griff er nach seinem Handy. Er müsste Vanessa einiges erklären – jetzt traute er sich dies auch wieder zu. Er hoffte, sie würde mit ihm gemeinsam darüber lachen können. So, wie der Abend begonnen hatte, konnte er doch eigentlich nur noch besser werden …

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