Manchmal fragte sie sich, warum sie sich diese Strapaze immer wieder antat. Die Antwort war einfach: wegen des Geldes. Und was tat man nicht alles, um sich wenigstens von Zeit zu Zeit etwas leisten zu können. Und letztlich war es ja leicht verdient. Dennoch schlich sich gelegentlich der Gedanke in ihren Hinterkopf, dass sie genau genommen ihren Körper verkaufe. Oder fast. Naja, zumindest ein bisschen.
Sie blinkte, bog in eine dunkle Einfahrt ein und parkte ihre geliebte Rostschüssel neben einem schicken BMW der neuesten Baureihe.
Den voluminösen Rucksack über die Schulter gehängt, stieg sie ein paar Stufen nach oben und klopfte an die Hintertür. Wenig später wiederholte sie ihr Anklopfen. Die Tür öffnete sich und eine pummelige Frau in eng geschnittener, extravaganter Kleidung ließ sie herein. Sie würde den Reiz von Lack und Latex nie verstehen, doch das verlangte auch niemand von ihr. Und heute schon gar nicht – der Job an diesem Abend hatte rein gar nichts mit Klamotten jeglicher Art zu tun.
Die Dame war sehr freundlich, zeigte ihr, wo sie ihre Kleider und die Tasche lassen konnte und führte sie zu dem Tisch, auf dem das Buffet aufgebaut werden sollte.
Keine drei Minuten später lag sie nackt darauf. Auf dem kalten Bufett, im wahrsten Sinne des Wortes. Es hätte ruhig einer die Heizung anstellen können, dachte sie fröstelnd.
Obwohl die Gäste frühestens in einer halben Stunde erwartet werden würden, sortierte der junge Angestellte vom Partyservice bereits hektisch die zu arrangierenden Köstlichkeiten. Möglicherweise war er so nervös, weil er die Speisen zum ersten Mal auf einer lebenden Servierplatte anrichten würde.
Diesen ungewöhnlichen Job hatte ihr eine Freundin vermittelt, die sich gelegentlich auf Fetisch- und BDSM-Partys herumtrieb. Sie hatte ihr erzählt, dass der Organisator solcher Events händeringend auf der Suche nach gutaussehenden Frauen sei. Modellen quasi, die ihn unterstützten und die nicht ängstlich waren, gegebenenfalls auch außergewöhnliches am Leib zu tragen und in einem bizarren Umfeld tätig zu sein. Zudem, so hatte es weiterhin geheißen, bezahle er ausgesprochen gut.
Sie hatte kurzentschlossen bei ihm vorgesprochen und war vom Fleck weg eingestellt worden. Seitdem hatte sie auf einigen seiner Veranstaltungen gearbeitet – kleiner Rahmen, ausgesuchtes Publikum. Ein paar Mal hatte sie in entsprechenden Outfits und auf mörderisch hohen Highheels Getränke herumgereicht, doch der bisher unbequemste Abend war der gewesen, an dem sie wie ein Paket verschnürt in einer Ecke gekniet und unterwürfig zu Boden geschaut hatte. Das mit Abstand ausgefallenste aber stand ihr heute bevor: Am ganzen Körper rasiert und hübsch hergerichtet lag sie auf einem langen Tisch, auf dem die leckersten Speisen um sie herum aufgebaut werden würden. Die Krönung stellte hierbei das frische Obst dar, das auf ihr dekoriert und unmittelbar von ihrer nackten Haut serviert sollte.
„Nicht bewegen, bitte denken Sie daran“, hörte sie die Stimme des Caterers neben sich. Zwar hatte sie sich einigermaßen bequem hingelegt, doch es war gewünscht, dass sie dabei noch aufreizend aussehen sollte. Sie ahnte, es würde schwierig werden – allein die zwanzig Minuten, die sie hier lag, und in denen eine Delikatesse nach der anderen auf ihr platziert worden war, erschienen ihr bereits wie eine Ewigkeit.
Eine Stunde später hatte sich der Raum deutlich gefüllt. Beiläufig beobachtete sie die bunte Mischung der Anwesenden; etwas anderes hatte sie ohnehin nicht zu tun. Vornehmlich handelte es sich um Paare, alle außergewöhnlich und dem Anlass entsprechend gekleidet, jedes mit einer klaren Rollenverteilung darüber, wer den Ton angab und wer zu gehorchen hatte. Schon verrückt, was einige Leute so mögen … Wobei sie sich, was spezielle Vorlieben anging, nicht ausschloss, wenn auch der BDSM-Bereich nicht unbedingt ihre Welt war.
Sobald sich jemand bei den Speisen bediente, lächelte sie ihn strahlend an, antwortete jedoch nicht auf Ansprechversuche. Sie war heute lediglich die Deko.
Bald bemerkte sie, dass sie gut und gern mal die Toilette aufsuchen könnte. Ausgerechnet jetzt … Dabei hatte sie vorher absichtlich wenig getrunken. Ihr fiel ein, dass sie über diesen einzutretenden Fall nicht mit ihrem Chef gesprochen hatte. Daher hatte sie weder eine Idee, ob es ihr erlaubt war, noch, wie es überhaupt funktionieren könnte. Zwar war es noch nicht übermäßig dringend, aber bis wann sie durchzuhalten hätte und das Buffet wieder abgebaut werden würde, hatte man ihr ebenfalls nicht gesagt. Natürlich würde sie nicht die ganze Nacht dort liegen müssen, so viel wusste sie, doch selbst bis Mitternacht dauerte es mindestens noch zwei Stunden. Was blieb ihr also, als zu versuchen, sich abzulenken, indem sie an etwas vollkommen anderes dachte, als an Toilettenschüsseln und rauschende Bäche.
Fünfundvierzig Minuten später funktionierte diese Strategie nicht mehr. Der Druck ihrer Blase war enorm angestiegen. Die Tatsache, dass sie sich so gut wie nicht bewegen durfte, da sonst die Speisen in Unordnung geraten und die Frucht- und Obstkompositionen abrutschen könnten, machte es ihr nicht leichter. Hinzu kam, dass es auf der Tischplatte zunehmend unbequemer wurde und ihr das Ruhigliegen stetig schwerer fiel. Außerdem war ihr kalt, was den Drang zum Pinkeln gefühlsmäßig verstärkte.
Liebend gern hätte sie kurz mit ihrem Boss, dem Veranstalter geredet und ihn auf ihre missliche Lage hingewiesen, doch diesen hatte sie nur zu Anfang des Abends einmal gesehen. Auch die Frau, die ihr die Tür geöffnet hatte, war nicht greifbar. Sie hielt sich auf der gegenüberliegenden Seite des Zimmers auf.
Die allgemeine Aufmerksamkeit hatte sich mittlerweile vom Essen abgewandt und auf etwas gerichtet, das im angrenzenden Raum stattfand. Sie nahm an, dass einige Paare dort zu „eindeutigeren“ Handlungen übergegangen waren und die vorhandenen Gerätschaften und Utensilien nutzten.
Vorsichtig verlagerte sie ihr Gewicht. Das Gefühl des Nötigmüssens hatte dramatisch zugenommen, was sie in ihrer statuenhaften Reglosigkeit ganz besonders quälte. Sie konzentrierte sich zwangsläufig auf nichts anderes als ihren Körper und das Pulsieren in ihrer prallgefüllten Blase.
Unpassenderweise schickte ihr Geist ihr Bilder, in denen sie diese Situation in der Vergangenheit forciert hatte. In der sie absichtlich spät zum WC gegangen war, weil ihr der Druck so gefiel, sie sogar erregte. Das war jedoch immer in der eigenen Wohnung geschehen, mit dem Wissen, das Spiel jederzeit abbrechen und auf die Toilette flitzen zu können.
Zuweilen hatte sie es zu Hause sogar freiheraus in ihre Hose laufen lassen. Einfach zum Spaß. Danach hatte sie die Sachen in die Waschmaschine gesteckt und fertig. Wenn es doch auch hier nur so simpel wäre … Aber auf das Essen der geladenen Gäste pinkeln? In ihrem Kopf blitzte der Gedanke auf, dass es einigen womöglich gefallen könnte. Wer wusste schon genau, auf welche Art von Spielchen die Paare ihre Leidenschaft ausdehnten?
Ihr gesamter Körper war angespannt. Sie hatte das Gefühl, es bald nicht länger aushalten zu können. Auf ihrer persönlichen Skala stand der Zeiger kurz vor dem roten Bereich. Innerlich redete sie sich Mut zu, dass es wohl nicht mehr lange dauern könne, bis sie erlöst werden würde. Immerhin lag sie bereits eine ganze Weile und essen wollte augenscheinlich auch niemand mehr. Die Minuten wurden zu gefühlten Stunden.
Als sie begann, über eine panikartige Flucht vom Buffettisch nachzudenken, kamen die zwei Mädchen, die an jenem Abend ebenfalls jobbten, zu ihr heran.
„Wir sollen abbauen und den restlichen Kram von dir runternehmen“, verkündeten sie munter. Ja, endlich! Was für ein Glück!
Innerlich zitternd harrte sie aus und wartete, dass auch die letzte Ananasscheibe von ihr heruntergesammelt worden war. Sofort darauf richtete sie den Oberkörper auf und schwang die Beine zur Tischkante.
„Sorry, ich muss ganz, ganz dringend“, entschuldigte sie sich für ihre Eile und stürzte schon in die nebenliegende Teeküche und von dort in das Zimmer, in das sie ihre Klamotten gelegt hatte.
Die Lebensmittelreste auf der Haut waren ihr gleichgültig, sie wollte nur schnell in Hose und Pulli schlüpfen. In der Küche kam ihr die dralle Dame entgegen, um sich von ihr zu verabschieden. Sie teilte ihr das Übliche mit, dass ihr die Entlohnung auf das Konto überwiesen werden würde, und dankte ihr danach freundlich.
„Entschuldigung, ich müsste noch mal eben ins Bad.“ Ein Stirnrunzeln seitens der molligen Hausdame. Dies würde ihr nicht sonderlich passen, merkte sie an, nicht an diesem Abend und in dieser Kleidung … Wie bitte? Nahm sie an, sie würde in ihrer Einfachheit das exklusive Ambiente stören? Da es bedrohlich eng wurde und ihr die Zeit zum weiteren Nachdenken und Diskutieren fehlte, verließ sie gehetzt das Gebäude.
Kaum war die Tür hinter ihr ins Schloss gefallen, ließ sie es auf der Treppe stehend spontan laufen. Sie entspannte sich erstmalig seit Stunden, legte den Kopf zurück und genoss die irrsinnige Erleichterung. Es war eine Premiere – zum ersten Mal pinkelte sie sich nicht zu Hause, in den schützenden vier Wänden, in ihre Jeans, sondern tat es in der Öffentlichkeit. Zwar im schutzbietenden Dunkel der Nacht aber immerhin draußen … Es machte die Sache bedeutend spannender.
Sie spürte ihr Herz kräftig klopfen; die heiße Nässe, die in den Stoff der Hose rauschte und ihre ausgekühlten Beine aufwärmte und das unglaublich befreiende Gefühl, endlich nicht mehr gegen den Druck ankämpfen zu müssen, fachte ihre Aufregung an.
Als auch der letzte Tropfen aus ihr herausgeströmt war, stand sie in einer gewaltigen Pfütze. Ihre Turnschuhe würde sie diesmal wohl ebenfalls in die Waschmaschine stecken müssen. Sie sah an sich herunter, grinste erleichtert und empfand es als das Normalste der Welt, dass sie soeben vor die Tür ihrer Arbeitsstätte gepinkelt hatte. Und es war wundervoll gewesen.
Sie lachte laut und herzlich, sogar noch, als sie schon längst in ihrem Auto auf einer alten Einkaufstüte saß und den Weg nach Hause eingeschlagen hatte. Sie freute sich unbändig auf eine ausgiebige Dusche und noch viel mehr auf ihr Bett, dessen weiche Matratze sie nach der harten Oberfläche des Buffettisches sehr zu schätzen wissen würde.